Die Katastrophe im Karniner Forst

Die Katastrophe im Karniner Forst

Am Abend des 20. September 1985 hörten die Anwohner um Karnin, westlich von Stralsund, einen ungewöhnlich lauten Knall. Die Fensterscheiben der Häuser in der Umgebung erzitterten. Man vermutete, daß wieder einmal ein Düsenjäger vom Fliegerhorst Pütnitz die Schallmauer durchbrochen hatte.

Doch wenig später ging bei der militärischen Luftraumüberwachung im „Fuchsbau“ Fürstenwalde die Meldung ein, daß ein sowjetisches Flugzeug abgestürzt ist. Davon wurden sofort die Dienststellen der Volkspolizei im Kreis Stralsund verständigt.
Ein Düsenflugzeug und sein Pilot galten als vermisst. Es war ein Freitagabend und bereits dunkel.
Erst am nächsten Morgen begann eine großangelegte Suchaktion. Hubschrauber kreisten in geringer Höhe und suchten vergeblich nach dem verschollenen Flugzeug.
Am Vormittag entdeckte ein Pilzsammler im Karniner Holz einen tiefen Krater. Dieser war mit einer rotschimmernden Flüssigkeit gefüllt. Darüber lagen mehrere entwurzelte Bäume. Dazwischen ragte ein haustürgroßes Blech mit einem roten Stern hervor, das von einem sowjetischen Flugzeug stammen könnte.
Er fuhr nach Karnin und berichtete der Polizei über seinen ungewöhnlichen Fund. Zusammen mit dem Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei sicherten sie die Fundstelle.
Bald darauf landeten auf dem benachbarten Feld sowjetische Militärhubschrauber. Sie brachten Soldaten mit, die das Waldgebiet großräumig absperrten.
Es war die Absturzstelle der vermissten Maschine.
Von dem Flugzeug waren bis auf zwei große Blechstücke aber keine Spuren zu erkennen. Das Düsenflugzeug war fast senkrecht aufgeschlagen und hatte sich tief in den lehmigen Waldboden gebohrt. Die umstehenden Eichen waren zerfetzt und der Waldboden im Umkreis von 50 Metern mit Morast bedeckt.

Die Bergungsarbeiten dauerten über 2 Wochen. Dabei kamen Spezialbagger aus dem Meliorationskombinat Stralsund zum Einsatz. Damit sie an den Einsatzort gelangen konnten, mußten zuerst Schneisen in den Wals geschlagen werden.
Die sterblichen Überreste der Piloten und größere Wrackteile konnten erst in 18 Meter Tiefe geborgen werden. Danach wurde die tiefe Grube wieder verschlossen. An der Aufschlagsstelle blieb ein kleiner Teich im Wald zurück.
Doe Sowjetarmee errichtete zur Erinnerung an diese Katastrophe einen Gedenkstein neben der Absturzstelle. Darauf steht auf russisch, daß der Pilot bei der Erfüllung dienstlicher Angelegenheiten umkam.
Nach einer Trauerfeier in Lärz wurden die sterblichen Überreste des Piloten zur Beisetzung in die Sowjetunion überführt.
Oberst Gennadi Aleksandrowitsch Kusnezow Foto: privat
Nach Abzug der sowjetischen Truppen 1994 wurde das Denkmal von Bürgern aus den umliegenden Orten weiter gepflegt.
Damals war es nicht üblich, über militärische Flugunfälle in der Presse zu berichten.
In der Bevölkerung glaubte man, daß die abgestürzte Militärmaschine zum nahegelegen Fliegerhorst der Sowjetarmee in Ribnitz-Damgarten gehörte. Weitere Einzelheiten waren nicht bekannt.
Erst 20 Jahre später konnten durch Befragungen von Zeugen und Untersuchungen von aufgefundenen Wrackteilen weitere Fakten geklärt werden.
Der verunglückte Pilot, Oberst Kusnezow, war der Kommandeur des 19. Gardefliegerregimentes der 16. Luftarmee der sowjetischen Streitkräfte in der DDR.
Seine Einheit war auf dem Flugplatz Lärz an der Müritz stationiert.
An jenem Freitagabend war er dort mit seinem Flugzeug gestartet.
Es war ein Übungsflug unter schwierigen Wetterbedingungen bei starker Bewölkung geplant.
Der Flug auf gewohnter Strecke verlief anfangs problemlos.
Im Raum Richtenberg flog er in 5000 Metern Höhe, als er über Funk das Versagen der Steuergeräte meldete.
Nach einigen Sekunden fiel auch die Funkverbindung aus. Danach verschwand das Flugzeug schließlich vom Radar.
Wegen der völligen Zerstörung des Flugzeuges konnte der genaue Hergang des Absturzes nie restlos geklärt werden.
Im Dienstbericht der Führungsstelle der Luftverteidigung der DDR wurde am nächsten Tag nur vermerkt:
„Mig-27, Lärz, nach Ausfall Generator Ausbleiben vom Flugauftrag“
Die spätere Unglücksmaschine mit der Bordnummer 56 (Foto: privat)
Die Frage, warum sich der Pilot nicht mit seinem Schleudersitz rettete, bleibt unbeantwortet.
Ob der Flugdatenschreiber gefunden wurde, ist auch nicht bekannt. Dessen Daten hätten zur Ursachenklärung beitragen können.
Noch heute liegen unzählige kleine Wrackteile weit im Wald zerstreut.
Durch Auswertung einiger Fundstücke konnten wichtige Details zum Flugzeuge ermittelt werden:
Bei der Unglücksmaschine handelte es sich um einen sowjetischen einsitzigen Kampfbomber vom Typ MiG-27 K.
Diese Maschine trug am Rumpf die blaue Bordnummer 56.
Gefertigt wurde sie 1982 im Flugzeugwerk Irkutsk mit der Seriennummer 768 026 27164.
Die Maschinen vom Typ MiG-27 waren mit Schwenkflügeln ausgestattet und hatten nur ein Stahltriebwerk.
Sie wurden als Kampfbomber zur Bekämpfung von Panzern mit Lenkraketen entwickelt und besaßen zusätzlich eine 30 Millimeter-Kanone mit 6 Läufen und einer Feuergeschwindigkeit von ca. 6000 Schuss pro Minute.
Die Version MiG-27 K wurde seit 1976 in Serie produziert und ab 1980 bei den sowjetischen Streitkräften eingesetzt.
Sie war mit einer für die damalige Zeit hochmodernen Visiereinrichtung ausgestattet. Diese bestand aus einem Videosystem zur Ortung von gepanzerten Zielen, das mit einem Laserstrahl gekoppelt war.
Ein Bordcomputer steuerte damit die Raketen automatisch zum Ziel, während der Pilot weiterfliegen konnte.
Die Existenz dieses hocheffektiven Waffensystems auf dem Gebiet der DDR wurde streng geheimgehalten und war damals selbst in Fachkreisen der Fliegerkräfte der DDR weitgehend unbekannt geblieben.

01.09.2018 Manfred Rassau